01.04.2022
WÜTEND AUF GOTT
Können Sie eigentlich noch an Gott glauben, wenn Sie das alles hier sehen?" fragte mich ein Hauptgefreiter, als wir in einem Fuchs auf Patrouille durch vom Krieg zerstörte Dörfer in Bosnien fuhren. Das war 1998, im Rahmen des SFOR-Einsatzes. Heute
Wie kann Gott zulassen, dass Menschen im Krieg und durch Krankheiten leiden? Gott verhindert Leid nicht, aber er begleitet uns, schreibt Militärseelsorger Martin Jürgens.
Können Sie eigentlich noch an Gott glauben, wenn Sie das alles hier sehen?“, fragte mich ein Hauptgefreiter, als wir in einem Fuchs auf Patrouille durch vom Krieg zerstörte Dörfer in Bosnien fuhren. Das war 1998, im Rahmen des SFOR-Einsatzes.
Heute fragen angesichts des Krieges in der Ukraine wieder viele Menschen: Wie kann das sein? Wie kann heute noch ein Land seinen Nachbarn überfallen? Wut und Ohnmacht gegenüber dem Bösen quälen uns dabei. Und unsere Wut richtet sich nicht nur auf den Diktator, der das befohlen hat, nicht nur auf die russischen Soldaten, die eigentlich keine Wahl haben und von denen viele über diesen Krieg schlecht informiert scheinen, sondern auch auf Gott.
Auch wenn uns persönlich Schlimmes passiert, wir schwer erkranken oder im Dienst eine große Ungerechtigkeit erleben, denken wir: „Wie kann Gott das zulassen?“ Eine Frage, die so alt ist wie die Menschheit.
Die Bibel enthält in ihrer Sammlung ein ganzes Buch, in dem es um diese Frage geht, das Buch Hiob im Alten Testament. Ein frommer Mann, Hiob, verliert darin alles, was ihm im Leben wichtig ist, Besitz und Familie. Er fragt deshalb nach der Gerechtigkeit Gottes. „Kann ein Gott gerecht sein, der so etwas tut?“ Von seinen Freunden bekommt er unglaublich dumme Antworten, nach dem Motto: „Wenn es dir schlecht geht, wird das schon seinen Grund haben.“ Das kennen wir. Immer wieder höre ich, wahrscheinlich zur Selbstberuhigung, Erklärungen, warum bestimmte Menschen vielleicht doch selbst schuld an ihrem Leid seien. Und wenn ich manchmal zum Ukraine-Krieg lese, dass die Ukraine doch selbst schuld an dem Überfall sei, regt mich das unglaublich auf. Es ist das gleiche Prinzip.
ES TRIFFT UNSCHULDIGE
Auch unschuldigen Menschen passiert Schlimmes. Was können, wie jüngst in Hannover geschehen, zwei Kinder dafür, wenn sie bei einem illegalen Autorennen getötet werden? Was können die Zivilisten in der Ukraine und anderswo für den Kriegsterror? Was können künftige Generationen dafür, dass wir mit den Ressourcen der Erde nicht haushalten?
Das alles passt schlecht zu einem Bild vom „lieben Gott“, wie es uns teilweise seit Kindertagen begleitet. Müsste es bei einem „lieben“ Gott jemandem, der immer nur gut und fromm war, nicht gutgehen? Müsste Unschuldigen nicht Leid erspart werden?
Über diese Fragen haben sich viele Menschen den Kopf zerbrochen. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz aus Hannover hilft mir persönlich mit seinen Gedanken aus dem 18. Jahrhundert am besten weiter. Er sagt, dass das Leiden der Menschen zwei Gründe hat: Zum einen ist diese Welt noch nicht die, die Gott uns versprochen hat. Sie ist noch nicht vollendet. Das sehen wir bei Naturkatastrophen und Krankheiten. Wenn wir im Vaterunser bitten, „dein Reich komme“, ist das auch eine Bitte um die Vollendung der Welt.
DIE FREIHEIT MISSBRAUCHT
Zum anderen sagt Leibniz, ist das Leid darin begründet, dass Menschen Sünder sind. Das heißt nichts anderes, als dass sie ihre gottgegebene Freiheit missbraucht haben, sich von Gott und den Mitmenschen gelöst haben und egoistisch handeln. Das sehen wir bei Kriegen und Verbrechen, aber auch bei den Folgen des Klimawandels. Was Leibniz sagt, erklärt mir einiges, aber es tröstet mich nicht.
Das tut etwas anderes: Ich glaube nämlich nicht an den lieben Gott! Wenn ein Pastor das sagt, mag das manche schockieren, dennoch stehe ich dazu: Nein, ich glaube nicht an den milde lächelnden alten Herrn da oben, der mir die banalen Worte „es wird schon alles wieder gut“ zuflüstert. Nein, manchmal wird es nicht wieder gut und dem können wir nicht ausweichen.
Der Satz „Ich glaube nicht an den lieben Gott“ geht aber noch weiter: Ich glaube an den liebenden Gott. Einen, der uns um unserer Freiheit Willen nicht alles erspart, uns sogar die Chance gibt, böse zu sein. Aber einen Gott, der sich mit unserem Leben in Licht und Dunkel auskennt. Sein Sohn, Jesus Christus, hat als Mensch gelebt und die Grausamkeiten erfahren, die Menschen einander antun.
In meiner Dunkelheit, das weiß ich, ist Gott bei mir, um mich zu beraten, zu trösten, meine Wut zu verstehen und Wege für mich zu finden. Einfach, weil er mich liebt. Wenn wir heute für den Frieden beten, bitten wir Gott, dass er die Menschen ebenso mit Liebe füllt und auf einen friedlichen Weg führt.
Dem Hauptgefreiten in Bosnien habe ich damals übrigens gesagt, was ich heute noch denke: „Wenn ich angesichts des Leids nicht an Gott glauben würde, wenn das hier das letzte Wort wäre, dann wäre die Welt echt am Ende.“
Martin Jürgens ist Militärseelsorger in Hannover